Corrie ten Boom
war eine bemerkenswerte Zeugin Jesu. Sie war war eine holländische Christin, die mit
ihrer Familie ins KZ musste. Ihre Schwester starb, Corrie lebte. Corries Zeugnis ist relativ bekannt - und trotzdem äußerst zeitgemäß und immer
wieder lesenswert. Unsere Welt braucht Vergebung. Leider wird sie es nie kollektiv erfahren. Aber jeder Einzelne kann Vergebung bekommen - und weitergeben, wie dieses Lebenszeugnis zeigt.
VERGEBUNG
München im Jahre 1947: Ernste Gesichter starren
mir entgegen. Ich habe gerade in einer Kirche gepredigt und über meine
Zeit im Konzentrationslager gesprochen. Jetzt ist alles vorbei. Die
Menschen verlassen wortlos den Raum. Ein Mann kommt mir entgegen. Er
arbeitet sich gegen die Menge zu mir nach vorne.
In diesem Moment sehe ich den Mantel, den braunen
Filzhut, dann die blaue Uniform und ein Barett mit Totenschädel und
gekreuzten Knochen. Ich sehe den grossen Raum, in dem wir uns nackt
ausziehen mussten. Die Schuhe und die Kleider am Boden. Wir mussten
nackt an ihm vorbeigehen. Ich erinnere mich an die Scham, ich erinnere
mich an meine ausgemergelte Schwester, deren Rippen deutlich unter der
pergamentartigen Haut hervortraten.
Wie weit reicht Vergebung?
Wir waren ins KZ gekommen, weil wir Juden in
unserem Haus versteckt hatten. Meine Schwester überlebte das
Konzentrationslager nicht. Ich erinnerte mich an diesen Mann und an
seine Jagdpeitsche, die in seinem Gürtel steckte. Jetzt stand ich zum
ersten Mal einem meiner Häscher gegenüber. Mein Blut schien zu
gefrieren. Er sagte: «Sie sprachen von Ravensbrück. Ich war Wächter
dort.» Er fuhr fort: «Ich bin Christ geworden.» Er steckte mir seine
Hand entgegen und fragte: «Werden Sie mir vergeben?»
Sekunden stand ich wie gelähmt vor diesem Mann,
doch es kam mir vor als wären es Stunden. Ich kämpfte in meinem Inneren:
Meine Schwester war schliesslich im Konzentrationslager Ravensbrück
elend und langsam gestorben. Doch dann erinnerte ich mich an eine
Bibelstelle: «Wenn ihr den Menschen ihre Sünden nicht vergebt, dann wird
der himmlische Vater im Himmel auch euch nicht vergeben» (Matthäus
6,15).
Nach dem Krieg hatte ich ein Heim für Naziopfer eröffnet. Ich erlebte dort, dass die, die vergeben konnten, innerlich frei wurden, egal welche körperlichen Schäden sie hatten. Die, die an ihrer Bitterkeit festhielten, blieben jedoch Invaliden. Ich stand immer noch vor dem Mann. Kälte umklammerte mein Herz. Doch Vergebung ist kein Gefühl, sondern in erster Linie ein Akt des Willens. Ich betete und hob die Hand. Ich betete darum, dass Gott mir das Gefühl der Vergebung schenken möge. Mit einer mechanischen Bewegung legte ich meine Hand in die Hand, die sich mir entgegenstreckte.
Dann geschah etwas Unglaubliches! Ein heisser
Strom entsprang in meiner Schulter. Er lief meinen Arm entlang und
sprang über in unsere beiden Hände. Mein ganzes Sein wurde von dieser
heilenden Wärme durchflutet. Ich hatte plötzlich Tränen in den Augen und
konnte sagen:
«Ich vergebe dir! Ich vergebe dir von ganzem Herzen.»
Ein langer Augenblick folgte, in dem wir beide die Hand des anderen umschlossen, der frühere Wärter und die frühere Gefangene. Ich hatte Gottes Liebe noch nie so intensiv erlebt wie damals.
«Ich vergebe dir! Ich vergebe dir von ganzem Herzen.»
Ein langer Augenblick folgte, in dem wir beide die Hand des anderen umschlossen, der frühere Wärter und die frühere Gefangene. Ich hatte Gottes Liebe noch nie so intensiv erlebt wie damals.
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