Geht es uns nicht auch oft so? Ich bekenne es freimütig. Wenn es nicht gerade ein kleiner Blitzeinschlag am Morgen war, muss ich schon am Abend scharf nachdenken, um mich zu erinnern. Also kann man es doch ganz sein lassen, oder? Wenn das, was ich in der Stillen Zeit lese, mich nur so kurz beschäftigt, dann kann es wohl kaum etwas bewirken, richtig? Mir fiel diese Kurzgeschichte von Rosemarie Harpert* in die Hände, die uns zu einer Antwort verhilft.
Am
Rande der Wüste lebte ein Eremit. Ihn besuchte eines Tages ein junger
Mann, der ihm sein Leid klagte. Ich lese so viele heilige Texte, sagte
er, ich vertiefe mich in die Schönheit der Worte, ich möchte sie alle
festhalten und als einen Widerschein der ewigen Wahrheit in mir
bewahren. Aber es gelingt mir nicht, ich vergesse alles. Ist nicht die
mühevolle Arbeit des Lebens umsonst?
Der Eremit hörte ihm gut
zu. Als er fertig war mit Sprechen, ließ er ihn einen
schmutzverkrusteten Korb aufnehmen, der neben der Hütte stand. Hole mir
aus dem Brunnen dort drüben Wasser, sagte er.
Hat er meine Frage nicht
verstanden? dachte der Jüngling. Widerwillig nahm er den schmutzigen
Korb und ging zum Brunnen. Das Wasser war längst heraus gerieselt, als
er zurückkehrte. Geh noch einmal, sagte der Eremit. Der junge Mann
folgte. Ein drittes und viertes Mal mußte er gehen. Der Alte prüft
meinen Gehorsam, ehe er meine Frage beantwortet, dachte er. Immer wieder
füllte er Wasser in den Korb, immer wieder rann es zu Boden. Nach dem
zehnten Mal durfte er aufhören.
Sieh den Korb an, sagte
der Eremit. Er ist ganz sauber, sagte der junge Mann. So geht es mit den
Worten, die du liest und bedenkst, sagte der Eremit. Du kannst sie
nicht festhalten, sie gehen durch dich hindurch und du hältst die Mühe
für vergeblich. Aber ohne daß du es merkst, klären sie deine Gedanken
und machen das Herz rein.
Ganz
ähnlich erging es der alten Frau, die im Gepräch war mit ihrem Pastor.
Als dieser sie nach ihrer persönlichen Stille mit dem Herrn fragte,
seufzte sie tief. „Jeden Morgen, Pastor. Aber mein Gedächtnis ist wie
ein Sieb.“ „Nun, was versprechen Sie sich denn dann von Ihrer ‚Stillen
Zeit’ am Morgen?“ wollte der Pastor wissen. „Mein Gedächtnis ist wie ein Sieb, aber durch das viele Wasser des Wortes Gottes ist es ein reingehaltenes Sieb,“ kam die Antwort.
Ich
bin dankbar für solche Ehrlichkeit. Sie hilft mir, dazu zu stehen, dass
auch ich mich oft abends kaum mehr erinnere, was ich morgens gelesen
habe. Ist meine Zeit mit Jesus darum wertlos? Nie und nimmer! Sein Wort
richtet aus, was Er will. Gelegentlich ist es ein mehrgängiges Buffet,
oft eine normale Mahlzeit, manchmal eine Diät, immer aber frisches, himmlisches Quellwasser. Darauf sollte niemand verzichten!
* (www.bachlechner.com/katharina/index.php?option=com_content&view=article&id=24&Itemid=9)
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